Wir waren der 17. Lehrgang
Kristina Ratsch
Am Anfang der Reportageschule kaufte ich ein großes, rotes Notizbuch, das ich jeden Tag im Schulraum auf den Tisch legte und emsig alle Regeln für stilvolles Schreiben, spannendes Storytelling und gute Recherche mitschrieb. Mit jeder neuen Regel, die ich auf den Seiten festhielt, hatte ich zunächst das Gefühl, gar nicht mehr schreiben zu können. Je mehr ich lernte, desto mehr zweifelte ich an jedem Wort und Absatz. Nichts kam mir mehr gut genug vor, nichts klag mehr schön. Bis ich irgendwann begriff: Genau darum geht es! Das ganze angehäufte Wissen und die ganzen Regeln hatten meinen Blick für Texte geschärft: Ich hatte gelernt, einen guten Satz von einem schlechten zu unterscheiden, einen schwachen von einem starken Einsteig. Ich hatte gelernt, wie man Spannung hält und was langweilt, welche Fragen naiv klingen und wie ein gutes Interview endet. Das Schreiben machte mir plötzlich wieder Spaß, weil ich merkte, dass ich wirklich etwas daran verbessern konnte! Deshalb möchte ich nichts an diesem Jahr missen: nicht die Nachtschichten, nicht die harten Kritiken, nach denen man erst frustriert ist und sich dann aufrappelt und alles neu macht, nicht die manische Themensuche, nicht mal die Selbstzweifel - all das war schlussendlich eine Bereicherung und hat mich weitergebracht. Aber das allerbeste an diesem Jahr war sowieso: die Gemeinschaft, die die Reportageschule vor allem bedeutet. Die engen Freundschaften, die hier entstanden sind, das WG-Leben, die Abende auf dem Fußballplatz, im Vis-a-Vis, Besen, oder mit Philipp und Ariel im Schulgarten, die Nachmittage im Park für betagte Bürger*innen oder im Rebental, die Mittagessen beim Bruschetta, Eldenburg, die Paddeltour, München, Münster und die Ukrainefahrt. Eigentlich möchte ich sogar einfach das Schuljahr wiederholen!
Anna Scheld
Ja, wir haben uns ein Gruppentattoo zugelegt. „rr“ steht jetzt in zwei kleinen schwarzen Strichlein auf der Innenseite meines Oberarms. „Reportageschule Reutlingen“. Oder: „Rasende Reporterin“. Vielleicht verstehen nur wir, warum man sich die Initialen seiner Schule tätowieren lässt. Nur wir Zwölf wissen, wie sehr uns dieses Jahr zusammengeschweißt hat. Wir sind hin- und hergetingelt zwischen Alltag und Abenteuer. Hunderte Mittagspausen bei 'La Bruschetta' und genauso viele Vorstellungsrunden auf der einen Seite. Auf der anderen Seite Krakau, Lwiw, Münster. All diese Orte haben wir erkundet und abends Zimmer an Zimmer gewohnt. Schon im Februar beschwörte Kristina wehleidig unser Ende herauf: „Das wird so schlimm im November, wenn alles vorbei ist, Leute!“ Dabei ist das Ende der Reportageschule ein Anfang gewesen. Der Anfang einer Zeit, in der wir uns gemeinsam durch den wilden Journo-Dschungel schlagen.
David Holzapfel
Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Ariel. So begann die Zeit in Reutlingen, mit grundlegender Textarbeit und Workshops. Wir feilten an Satzanfängen, Satzenden, Verben, Adjektiven (igitt), kurzum: Wir hackten Texte kurz und klein, bis ich mir nicht mehr zutraute, je wieder selbst welche zu schreiben. Das legte sich zum Glück schnell. Genau das ist für mich die Essenz aus diesem Jahr: Finde deinen eigenen Weg! Wir lernten unterschiedliche Stile, Ansichten, Geschmäcker kennen - und machten dann unser Ding. Ich habe bei Minusgraden Obstler auf der Schwäbischen Alb getrunken (igitt), habe mit Menschen in Lviv über Hass gesprochen. Und ich habe Freunde fürs Leben gefunden. „Das wird ein aufregendes Jahr“, verspricht die Website der Reportageschule. Ein bisschen wehmütig blicke ich nun auf die Zeit zurück und sage: Es war ein aufregendes Jahr! Ich werde es in bester Erinnerung behalten.
Florian Bayer
Unser Jahr in Reutlingen begann rasant – und blieb es bis zum Schluss. Dazwischen grillten wir im Schulgarten, tranken Most in der Besenwirtschaft, wanderten über die Alb, interviewten Schnapsbrenner, lauschten dem Erzähltheater. Und saßen Tag für Tag im Fachwerks-Schulraum, manchmal länger, als uns lieb war. Dann tat es gut, rauszugehen – auch Reutlingen hat tolle Geschichten zu bieten. Ariel und Philipp helfen, wo sie nur können, und ergänzen einander wunderbar. Wo der eine manchmal zu motiviert ist, ist der andere mitunter zu entspannt. In Summe passt es perfekt. Stefan ist ohnehin der Fels in der Brandung, ohne den in Wahrheit nichts laufen würde. Ich vergleiche das Schuljahr gern mit einem reich gedeckten Büffet: Man probiert vieles aus, gustiert, mag nicht alles, lässt sich überraschen. Am Ende weiß man, was man kann und was man will. Am Weg dorthin wuchsen wir als Gruppe zusammen, lachten, weinten, feierten, diskutierten tagtäglich miteinander. Tipp: Plant danach erstmal Zeit für einen Urlaub ein. Ihr werdet es mir danken.
Katrin Groth
Ich habe in diesem Jahr viel in Wäldern gestanden, oder das, was von ihnen übrig war. Mal, um einen mutmaßlichen Mörder hinterher zu recherchieren, mal um herauszufinden, was Menschen der Klimakrise noch entgegensezen. Und einmal tauschte ich Laptop gegen Spaten, um selbst zu pflanzen. Kopf aus, buddeln an. Ich habe um erste Sätze gerungen, um Zitate gefeilscht, mit meinen Selbstzweifeln gehadert. Habe Geschichten verworfen und Deadlines gerissen. Und ich habe viel gelernt. Am meisten, wenn erfahrene Journalist:innen meinen Text auseinanderpflückten. Wort für Wort. Manche Dozenten wollten uns Disziplin beibringen, andere guten Schreibstil. Beides ist geglückt – von wenigen Ausnahmen abgesehen. Wir haben Nächte durchgeschrieben, haben in Lwiw Vareniky mit Sauerkirschen gegessen, beim J-Cup auf den 4. Platz angestoßen. Irgendwo haben wir immer noch ein paar Körner gefunden. Dieses Jahr macht müde. Im positiven Sinne. Wie nach einer kräftezehrenden Paddeltour, wenn man glücklich im Schlafsack verschwindet. Und weiß: Das war genau das Richtige.
Kim Lucia Ruoff
Und zum Schluss die anspruchsvollste Aufgabe des Jahres: Schreib 1000 Zeichen. Über die Aufregung des Anfangs. Die ersten drei Monate, beschnuppern und gegen Wände laufen. Vernichtende Kritiken, Themensuche bis sich das Gefühl einstellt: ES GIBT KEINE THEMEN MEHR, um dann doch über etwas Spannendes zu stolpern. Die Monate der Gruppenarbeiten, das Ausschwärmen, zusammen hirnen in saarländischen Klempnerwohnungen und britischen Hostels, die Verbannung des Wortes „hirnen“. Dabei sind wir längst im Journosprech versumpft. Dann GO, alle für sich. Endlich ausprobieren, auf was uns die großen Namen im Curriculum vorbereiten. Geschichten finden, hart recherchieren, sich am Schreiben entzücken oder alles daran hassen. Aber am Ende einen Text abgeben – und das große Wiedersehen. Zwölf Monate und ich kenne mich besser aus, im freien Journalismus, in zwölf Gesichtern, die ich in allen Wetterlagen begutachten durfte, in Lviv und auf den langen Armen der Mecklenburgischen Seenplatte, im Steuerdickicht und in den Gassen zwischen Spendhaus und Metzgerstraße, (eine davon die engste der Welt, erzählt man sich zum Glück nicht, nur eine Tafel besteht darauf). Das Jahr hat alles verändert.
Martin Hogger
Ich werde wahrscheinlich noch etwas brauchen, um so richtig verstehen können, wie sehr Reutlingen meinen Weg und mich verändert hat. Noch ist der Blick auf das vergangene Jahr ein zu diffuser. Ich erinnere mich an Fast-ins-Finale-einziehen beim J-Cup. Ich erinnere mich an Krankenhaus und Bänderriss. Ich erinnere mich an Podcast zu French Nails. Ich erinnere mich an 25.000 Zeichen zu Feuerwehren. Ich erinnere mich an Lachen, bis der Kopf schmerzt. Ich erinnere mich an Schreibblockaden und Selbstzweifel. Ich erinnere mich an Gespräche mit Helden und eingerissene Statuten. Ich erinnere mich an zwei Mal Ukraine und Paddeln über die Mecklenburgische Seenplatte. Was ich von hier aus sagen kann, ist folgendes: Ich würde wieder genauso machen.
Tim Winter
Das Jahr in Reutlingen war besonders. Es war wie ein Rausch. Wie ein Langstreckenflug ohne Zwischenlandung. Und mit ziemlicher Sicherheit das aufregendste Jahr meines Lebens. Wenn ich zurückdenke, denke ich an Seminare mit den Besten aus der Branche. Ich denke an Veröffentlichungen, von denen ich dachte, dass ich sie vielleicht irgendwann einmal in ferner Zukunft erreichen werde. Ich denke an das Investigativprojekt mit der ZEIT, an unsere Recherchen in der Ukraine und an die Farfalle allo chef bei Bruschetta. Vor allem denke ich aber auch an uns – an die Gemeinschaft, die mehr Kommune als Klasse war. Wir haben uns wieder aufgebaut, wenn Texte zerrissen worden sind, wir haben Feste gefeiert und jede noch so kleine Spelunke in Reutlingen unsicher gemacht. Für all das bin ich dankbar. Ich habe viel gelernt – über mich, übers Schreiben und den Journalismus. Jetzt fühle ich mich bestens gewappnet für das Leben als Reporter.
Maximilian Münster
Journalismus hatte für mein Verständnis viel mit Kaffee zu tun. In guten Redaktionen sollte er in großen Mengen getrunken werden, schwarz wie ein toter Backenzahn. Nur so klappt es auch mit gutem Schreiben, dachte ich lange. Dann saß ich in der Reportageschule. In der ersten Woche starrte ich auf eine Brühe, die war so dünn, ich sah den Tassenboden. Eine Mitschülerin hatte ihn für die Klasse zubereitet aus fünf Litern heißem Wasser und einer gemahlenen Bio-Bohne. Ich bedankte und wunderte mich. Ich hatte schon Texte der Mitschülerin gelesen. Sie schrieb gut, viel besser als ich, doch sie kochte grässlichen Kaffee. Doch wer vergleicht, nährt den journalistischen Selbstzweifel. Besser, wir lernen voneinander, riet ich ihr. In den kommenden Wochen schütteten erfahrene Reporter*innen Zutaten für die perfekte Reportage in uns hinein: beobachten, fragen, fragen, fragen, Einstieg, Struktur, Sprache. Wir rührten alles zusammen. Dann zerhackten wir unsere Texte und bauten sie neu … um sie wieder auseinanderzunehmen. Das tat oft weh, das musste es wohl…
Es muss ein Tag im Frühsommer gewesen sein, da sprach Ariel ein Machtwort: Der Kaffee war zu schwach, woraufhin wir die Pulvermenge erhöhten. Wir wurden wacher, erkannten wunde Punkte der Gesellschaft, über die wir berichteten und wunde Punkte der Mitschüler*innen, über die wir bei Käßspätzle und Wein sprachen. Wir lernten auch übereinander. Zum Beispiel, dass manche*r wohl nie guten Kaffee kochen wird. In der letzten Woche stellte mir irgendjemand eine Tasse hin, eine unverschämte Brühe. Ich trank und blätterte durch unser GO-Magazin. Gute Reportagen haben wohl nichts mit Kaffee zu tun.
Andrew Müller
Hätte mir früher jemand gesagt, dass ich mal ein Jahr in Reutlingen leben werde, hätte ich dieser Person einen Vogel gezeigt. Heute bin ich total froh, dass ich mich da getäuscht habe – nicht wegen der Stadt, sondern wegen allem, was ich dort erlebt und gelernt habe. Von Philipp und Ariel, von den anderen tollen Dozent*innen, und auch von den elf anderen des Jahrgangs, mit denen ich mich gemeinsam in dieses Abenteuer gestürzt habe. Es war eine intensive und sehr schöne Zeit. Nach dem Jahr, finde ich, reicht es dann aber auch erst mal mit Reutlingen. Man sieht sich ja wieder - sei es in Berlin, Hamburg oder Eldenburg. 🙂
Niklas Bessenbach
An einem Sonntag, kurz bevor die Schule losgeht, sitzen wir bei unserem Mitschüler David in der Wohnung. Wir erzählen uns, für wen wir schon geschrieben haben, wo wir herkommen und wer unsere Lieblingsreporterin ist. Das zaghafte Abklopfen der Neuankömmlinge. So fing es an. Eng umschlungen taumeln wir durch den Klassenraum, die Schultische an die Wände geschoben, vollgestellt mit Alkohol. Unsere Abschlussparty. Es ging drunter und drüber – und das in dem Raum, in dem wir Monate lang malträtiert wurden: Baue den Text wie eine Heldenreise auf! Benutze die ladder of abstraction! Verwende Verben, die vor Kraft strotzen! Einer der Schulleiter kommt auf dem Rücken eines Gasts herein, in den Händen hält er den demolierten Jackenständer, den er zum Beat herumschwingt. Ein wilder König. Wir grölen, küssen uns, sagen, dass wir uns lieben. So endet es. Dazwischen haben uns Reisen, Recherchen und Gates (unser Wort für aufgebauschte Skandale) verschmolzen: Wir aßen in einem kleinen Gasthof im Schwarzwald so viel Schwarzwälder Kirschtorten, bis wir nicht mehr Laufen konnten. Wir lachten uns noch Wochen später kaputt, was wir für ein Schrott nach einer Recherche über einen Schnapsbrenner abgegeben haben: Er sei der letzte Wannweiler, ein Dorfversteher, ein Tausendsassa. Wir nannten dann plötzlich jeden, der gerade viel zu tun hatte ironisch einen Tausendsassa. Es war ein Fest.
Marina Klimchuk
Wenn ich zurückschaue, verschwimmt alles. Am Anfang war da viel Mautaschen essen, sehr nette neue Menschen, denken, wie viel Spaß macht das alles, warum habe ich das nicht schon viel früher entdeckt. Tanzen zu Bi-Ba-Butzemann. Dann der Fall in die Tiefe: Ich kann nicht schreiben. Und die Angst, es auch nie zu lernen. Das nagende Gefühl von Versagen, Kritik, schlechtem Feedback. Der Kriegsausbruch in der Ukraine, wo alles andere egal wurde, inklusive Reportagen schreiben oder lesen. Es gab Wichtigeres zu tun. Und irgendwann im Frühjahr passierte es plötzlich: Der Verkauf eines Textes an eine große Zeitung, und noch eines weiteren. BOOM. Adrenalin. Aufatmen, man kann doch Schreiben lernen, hier bitte, das ist der Beweis. Seit ich diese Gewissheit besitze, lebt es sich einfacher. Der Sommer in Reutlingen, Aperol Spritz bei 'La Bruschetta', alle zusammen im Gras liegen, Freibad, bis spät in die Nacht an Texten arbeiten. Reportageschule – das ist Bootcamp und Schullandheim.