Wir sind der 16. Lehrgang
Anne Jeschke
Ich neige zu spontanen Handlungen, ohne groß nachzudenken. Jobs kündigen, Auftraggeber*innen absagen, nach Reutlingen gehen und einfach mal schauen, was passiert. Sowas halt. Als ich in der WG erzählte, wie ich als kleines Mädchen mal auf den Zehn-Meter-Turm geklettert, aber nicht runtergesprungen bin, sagte Joshi: Dann holen wir das dieses Jahr nach. „Klar“, hörte ich mich sagen. An einem Spätsommertag – ich hätte wie immer dringend an Texten arbeiten müssen – stand ich also im Reutlinger Freibad. Wegen Corona musste ich alleine, Stufe für Stufe, den Turm hochklettern. Ich bin zu alt für den Scheiß, dachte ich nur. Aber ich wusste, dass ich diesmal springen werde. Der 10er, meine Metapher für das Jahr an der Reportageschule. Springen musste ich allein, aber da unten stand Joshi. Wenn was schief geht, holt der mich da raus. Joshi im Freibad, meine Metapher für eine WG und eine Klasse, die hintereinander standen und einander aufgefangen haben. Der Sprung? Ging zu schnell. Das Aufkommen? Hat sauweh getan. Ich würde trotzdem wieder springen.
Astrid Probst
Als ich das erste Mal in den Schulraum kam, war ich skeptisch. Heute bin ich zuversichtlich. Damals, im Januar 2021, hingen an den Wänden die Texte der Vorgänger:innen, auf dem Tisch lag ein Ordner mit allen Veröffentlichungen – und ich dachte nur, puh, ob ich das auch kann? Gibt es in Reutlingen noch unerzählte Geschichten? Kann ich überhaupt für dieses oder jenes Medium schreiben? Wer Ende des Jahres unseren Schulraum betrat, fand das gleich Bild: Volle Wände, Zeitungsseite an Zeitungsseite, Aufmacher, Seite-Drei-Reportagen, Ich-Geschichten. Wir haben Texte geschrieben, sie in Einzelteile zerpflückt und neu zusammengesetzt, um Einstiege gerungen und um gute Honorare gekämpft. Immer wieder sagten Dozent*innen: „Gute Journalist:innen werden dringend gesucht.“ Wenn ich doch mal wieder an mir zweifle, erinnere ich mich an den voll behangenen Klassenraum, an Gespräche mit Mitschüler*innen und daran, dass wir zwölf uns auch in Zukunft Mut machen.
Brigitte Wenger
Den Job beim größten Schweizer Radio kündigen? Zurück ins Schulzimmer? Kein Geld, schlechter Kaffee? Als Klassen-Oma? Mit elf jungen, woken Deutsch:innen? Und sowieso: Where the fuck is Reutlingen? Check, done, und ich empfehle es weiter, unbedingt! Nur ein Jahr Reportageschule und ich habe etwas gemacht, was ich zuvor während zwölf Berufsjahren nicht geschafft habe: mich Journalistin zu nennen. Unbemerkt sogar. Plötzlich habe ich es mich sagen hören. Journalistin. Ja, ich! Natürlich habe ich mich auch geärgert. Natürlich war ich mal unterfordert, mal überfordert. Ich habe Antworten auf Fragen gekriegt, die ich nie gestellt habe. Gleichzeitig sind die großen Fragen noch immer unbeantwortet. Aber ich habe es nie bereut. Und nach wenigen Tagen im Redaktionsalltag des Praktikums weiß ich: Nicht nur hat mich die Reportageschule zur Journalistin gemacht, sie hat mich zur Reporterin gemacht. Draußen ist meine Welt, die Herausforderung mein Job. Und wenn ich nicht weiterweiß, helfen mir elf liebe Menschen, mindestens. Danke dafür!
Charlotte Köhler
Aus Reutlingen nehme ich 13 Anzeigen wegen (angeblichen!) falschen Parkens mit und die Gewissheit, dass mit schwäbischen Nachbar*innen nicht zu spaßen ist. 2021 war chaotisch, ich habe das Jahr auf Raststätten und Bahnsteigen verbracht, mit wässrigem Filterkaffee in der Hand noch schnell ein paar Telefonate geführt. In einem kleinen Klassenzimmer in der schwäbischen Provinz haben wir Journalist:innen kennengelernt, deren Texte wir seit Jahren bewundern – und haben unsere von ihnen zerpflücken lassen. Dabei hinterfragt man sich und seine Arbeit dann ganz automatisch. Das ist anstregend und manchmal schmerzhaft, aber es lohnt sich. Ich habe ewig an Sätzen gefeilt, nur um mich dann doch für die erste Version zu entscheiden, habe das Schreiben gehasst und geliebt, fünf Notizbücher gefüllt und Reportagen geschrieben, auf die ich stolz bin. Nach einem Jahr Reutlingen weiß ich, was mir in meinem Beruf wichtig ist. Allein deshalb würde ich es wieder machen. P.S. Die Anzeigen wurden fallen gelassen.
Franziska Pröll
Unsere Zeit in Reutlingen ist vorbei und ich bin noch dabei, das zu begreifen. Vor ein paar Tagen sind wir noch im Nebel über die Schwäbische Alb geirrt und vor gefühlt ein paar Wochen haben wir bei Philipp in Eldenburg am Lagerfeuer gesessen. Das Jahr ist wie im Flug vergangen. Wie viel ich gelernt habe, wird wohl erst in den nächsten Wochen und Monaten so richtig ankommen. Themen finden, Storytelling, Interviews führen, Podcasten, Honorare verhandeln – alles Teile eines Puzzles, das ich nach und nach zusammensetze. Obwohl ich neben dem Studium schon jahrelang als freie Journalistin gearbeitet habe, vieles verstehe ich erst dank dieser Ausbildung: Dass es sich lohnt, für Herzensthemen zu kämpfen. Dass unsere Arbeit ein faires Honorar verdient. Und dass wir als Journalist:innen umso stärker sind, wenn wir einander unterstützen.
Helena Weise
Als ich in Reutlingen ankam, hatte ich mehr Erwartungen als Kisten in meinem Kofferraum. Ein knappes Jahr lag vor mir und ich wollte so vieles lernen: Wie ich einen Text mit Plan und Struktur schreibe, nicht nur mit Intuition. Wie ich Themen finde und wo ich sie anbiete. Wie ich vom Schreiben leben kann. Ich kaufte mir zwei DIN A4 Notizbücher, 200 Blankoseiten, die täglich darauf warteten, von mir mit nützlichen Tipps und mindestens 1500 Regeln für guten Stil gefüllt zu werden. Nach drei Wochen habe ich aufgehört, mitzuschreiben. Und das lag nicht nur an der Erkenntnis, dass wir ein gemeinsames Protokoll führen, in das ich jederzeit reinschauen kann. Sondern ich begriff im Laufe der Zeit auch, dass dieses Jahr nicht das Ende meiner Ausbildung ist – sondern der Anfang. Jedes „1x1“ und „How to“ schlummert in meinem Kopf, um Text für Text erprobt zu werden. Der Rest ist Intuition. Und darauf zu vertrauen, ist wahrscheinlich meine größte Erkenntnis aus diesem Jahr.
Jannik Jürgens
Langsam gestartet, unauffällig, im Pulk die Kräfte schonend, um am Ende ganz nach vorne zu kommen – mit diesem liebenswerten Lob haben Ariel und Philipp mein Jahr an der Reportageschule beschrieben. Es gab nicht diesen einen Moment, in dem es Klick gemacht hat. Es gab so viele davon. Als ich verstanden habe, dass es vielleicht zehn oder zwanzig verschiedene Arten gibt, wie wir Geschichten erzählen und dass diese Muster in jeder Recherche stecken. Als ich mich getraut habe, meine Gedanken in Texte zu weben. Als ich merkte, dass die Klasse, die sich so oft stritt und zankte, mir so ans Herz gewachsen ist, dass ich kaum weiß, wie ich das nächste Jahr ohne sie aushalten soll. Als ich mich erinnerte, dass wir viel mehr können, als wir denken. Und als ich gemeinsam mit meinen MitschülerInnen im November-Nebel über die Schwäbische Alb stolperte und einer sagte: Wir wissen nicht genau, wohin es geht, aber wir gehen jetzt mal los!
Joshua Kocher
in diesem Jahr habe ich fünf Kilo zugenommen und ich rede mir ein, dass es sich dabei alleine um Hirnmasse handelt. Es wäre logisch, denn mein Kopf wurde mit mehr Wissen gefüttert, als in meinem kompletten Studium. Ich habe so viel gelernt. Wie wir Menschen Geschichten erzählen. Wie ich als Reporter sie packend aufschreibe. Wie ich sie für gutes Geld verkaufe. Fachlich war das Jahr herausragend, menschlich war es herausfordernd, eher im Guten als im Schlechten. Ich habe viel über mich selbst erfahren, auch über meine Mitschüler:innen. Das war manchmal anstrengend, aber meistens schön. Es war ein wirklich intensives Jahr, das wohl lehrreichste meines Lebens. Mit guten Menschen an meiner Seite, die ich schon jetzt vermisse. Vieles wird sich erst setzen müssen und mein Kopf braucht erstmal Urlaub. Na gut, ich muss noch gestehen, in der Schul-WG haben wir selten den Nachtisch weggelassen. Und Bäcker Veits Laugenweckle sind einfach legendär.
Paul Gäbler
Nein, Reutlingen ist keine schöne Stadt. Nein, die Reportageschule ist kein Ponyhof. 11 Monate lang wird der Schreibstil seziert, auseinandergenommen, alles steht auf einmal wieder zur Diskussion. Nein, Spaß sieht so nicht aus. Und dann plötzlich begreift man: hier geht es um die letzten zehn Prozent, den finalen Schliff, der aus einem guten Text einen sehr guten macht. Spaß macht es dann vielleicht immer noch nicht, aber nun hat das Leiden wenigstens einen Sinn. Das letzte Jahr habe ich die Pizzeria Balsamico mit meinen Ausgaben am Leben gehalten, stundenlang an fußgängerfeindlichen Ampeln gewartet habe geweint vor Freude und vor Schmerzen gelacht und dann - war es auch schon wieder vorbei. Das ist es wohl, dieses ominöse Reporterleben, von dem immer alle sprechen.
Pia Stendera
Ich bin Reporterin. In dem Jahr in Reutlingen habe ich verinnerlicht, wie wunderbar dieser Beruf sein kann: Wie wir unserer Neugier folgen, Vertrauen gewinnen, Empathie wecken und Verständnis herausfordern können. Wie wir die richtigen Worte für das Unbeschreibliche suchen dürfen. Wie viele andere Worte Reporter:innen nutzen, um ihren Beruf zu erklären und warum gerade diese Beschreibung mir passt, wie ein paar gut eingetragene Lederschuhe. Als ich am Anfang des Jahres die Schule betrat, habe ich meine Schuhe am Eingang ausgezogen. Ich habe andere Paare anprobiert, mich in ihrem Glanz gespiegelt und mir die ein oder andere Blase gelaufen. Am Ende des Jahres ziehe ich meine eigenen Schuhe wieder an und bin bereit loszulaufen. Zum Glück habe ich all das nicht allein gelernt. So konnte ich herausfinden, dass gemeinsames Arbeiten alles Schöne schöner und alles Schwierige weniger schwierig macht – und auch, dass es manchmal am schönsten ist, gar nicht zu arbeiten.
Sophie Laaß
Zu Beginn des Jahres hatte ich mir zwei Dinge vorgenommen: 1. Weniger am Schreibtisch sitzen. 2. Erfreuliche Geschichten aus dem Osten erzählen. Beides hat nur so semi-gut funktioniert. Zum Glück. Zwischen Interview-Unterricht auf Zoom, der zweiunddreißigsten Version des perfekten Einstiegssatzes und näher rückenden Abgabefristen mutierte der Schreibtisch irgendwann zu meinem besten Freund. Irgendwann brauchte ich nur noch zwei Anläufe für den Einstiegssatz. Statt erfreuliche Geschichten zu erzählen, schrieb ich in diesem Jahr ernste auf. Ich schaute mir misshandelte Tiere an, beschäftigte mich mit deutscher Bürokratie und russischer Desinformation, ließ mich von AfD-Wählern anpöbeln. Und merkte, dass ich das sogar noch ein bisschen wichtiger finde als konstruktiven Journalismus. Weil ich am liebsten dorthin gehe und schaue, wo es alle anderen unangenehm finden. Denn da passieren die Geschichten, die noch erzählt werden müssen. Vielleicht von mir? An der Reportageschule habe ich gelernt, den Mut dafür zu haben.
Yves Bellinghausen
Ich habe ja schon vor der Schule als Journalist gearbeitet, aber der Job hatte mich immer mehr angeödet. Dann bin ich in die Schule gekommen und musste den ganzen Tag über gute Geschichten reden, darüber, die Adjektive zu streichen und seine Erzählstimme zu finden und so. Manchmal hat es genervt, aber vor allem hat es mich inspiriert: Wie sollen meine Texte eigentlich klingen? Mit welchen Themen will ich mich beschäftigen? Wie mache ich aus dem Thema eine Geschichte? Immer wieder haben Ariel und Philipp von diesem mythischen Reporter-Lifestyle geredet und ich dachte: jaja, blabla, bis sie uns vom Schreibtisch weggeschickt und durch halb Europa gehetzt haben. Helgoland, Alpen, Russland. Tagsüber verzweifelt nach der verdammten Geschichte in der Geschichte suchen, abends mit den anderen zechen und Montag um 18 Uhr Textabgabe. Ich habe es so sehr geliebt. Und als ich verstanden habe, dass man damit gutes Geld verdienen kann, habe ich es noch mehr geliebt. Jetzt ist die Schule vorbei und natürlich vermisse ich meine Mitschülerinnen schon jetzt. Aber den Reporter-Lifestyle will ich nie mehr aufgeben.