Wir waren der 15. Lehrgang
Ich bin Amonte Schröder-Jürss
Am Ende des Jahres rief ich Philipp an und bat ihn um Rat. Es ging um einen für mich unheimlich wichtigen Text. Vielleicht den wichtigsten Text, den ich dieses Jahr geschrieben habe. Sein Rat bestand aus einem Satz: „Vergiss alles, was wir dir beigebracht haben.“ Es war der beste Rat, den er mir je gegeben hat. Denn das ist, was ich aus der Schulzeit mitgenommen habe: Sauge alles auf, vernetze dich, sehe in allem eine Chance, in jedem Menschen eine Möglichkeit, sei aufmerksam, sei neugierig, höflich und sei ehrlich. Versuche besser zu werden, besser zu schreiben, von jedem und allem zu lernen und am Ende – vergisst du alles und machst dein Ding. Wir lernen, um uns später davon lösen zu können. Es geht darum, sich zu finden in diesem kurzen Jahr voller unterschiedlicher Menschen mit noch unterschiedlicheren Meinungen. Es geht darum, viel zu fluchen, zu lachen, zu verzweifeln, wütend zu sein, mutig zu sein, zu wachsen und darum, sich am Ende treu zu bleiben.
Ich bin Andreas Holzapfel
Der Lockdown ist vorbei. Endlich. Und was machen wir? Wir stehen auf einer zertrampelten Wiese, umringt von blökenden Schafen, irgendwo im schwäbischen Nirgendwo, und lauschen dem Schäfer, der nur Fragen beantwortet, die niemand gestellt hat. Reutlingen kann nerven. Und Reutlingen tut es auch. Philipp und Ariel finden eigentlich kein Thema gut, manche nur weniger schlecht. Das nervt. Aber es hilft. Ich habe erst an der Schule gelernt, was eine gute Geschichte ist. Vorher saß ich oft vor einem Berg Notizen und wusste trotzdem nicht, was ich schreiben soll. Ich hatte einfach nichts zu erzählen. Dann kam Reutlingen. Einige Nächte habe ich in der Schule geschlafen, auf der Matratze neben Waschmaschine und Trockner. Es war entweder schon zu spät, um nach Hause zu fahren. Oder zu bierselig. An manchen Tagen wurde es ganz schön eng im Klassenraum. Im Ehebett auf Klassenfahrt hätten wir dafür kaum enger sein können. Manchmal habe ich Reutlingen verflucht. Aber meistens bin ich gern dort gewesen. Gute Geschichten jedenfalls kann ich, können wir viele erzählen.
Ich bin Anna-Sophie Barbutev
Meinen ersten Text an der Reportageschule habe ich über „Swabian Madness“ geschrieben, für den letzten bin ich in den Mikrokosmos osteuropäischer Werkvertragsarbeiter und den Wahnsinn der Fleischindustrie eingetaucht. Ich war zur Recherche im Asylbewerberheim, zuhause bei der Krimiautorin Ingrid Noll und bei einem Spukforscher. Am Valentinstag haben Noemi und ich mit der Recherche für „Würden Sie diesen Mann entlassen?“ begonnen, verlassen haben wir Reutlingen mit einer Nominierung für den Reporterpreis. Das Jahr war wild. Wir haben gedacht, geschrieben, gelacht und geweint. Eine Vision für unser Leben nach der Schule entwickelt. Die Pandemie im eigenen Onlinemagazin dokumentiert, an einem Corona-Bestseller mitgeschrieben. Noch nie bin ich so oft auf Berge gestiegen wie in Reutlingen. Immer dabei: die Liebe für Geschichten. Mein größtes Learning: gute Reportagen sind immer eine Herausforderung, auch für sehr erfahrene Reporter*innen.
Ich bin Britta Rotsch
Dieses Jahr hat mich körperlich, geistig und seelisch gefordert. Die Zeit an der Reportageschule ist intensiv – in jedem Bereich. Ich habe gelernt gegen Widerstände anzukämpfen - vor allem als Frau! - und an meine Themenideen zu glauben. Der Mikrokosmos des Journalismus hat gute wie schlechte Seiten. Beides durfte ich kennenlernen. Immer wieder hörte ich „das ist keine Geschichte“. Verlassen habe ich das Jahr Reutlingen mit einer Geschichte fürs „Zeit Magazin“ und einer für den Deutschlandfunk. Durch meine Mentorin und das Coaching verstand ich, wer ich als Journalistin sein möchte, was ich dafür brauche und wofür ich stehen will. Diese Schule ist eine Schule fürs Leben. Dort schwimmen viele Fische, ein paar schillern, ein paar treiben ab, ein paar schwimmen für sich allein, andere wollen das vielleicht gar nicht. Aber alles ist erlaubt. Das Jahr war emotional und elektrisierend, tough und tränenreich. Würde ich mich wieder dafür entscheiden? Ja!
Ich bin Isabelle Zeiher
Und die Reportageschule war mein Traum, den ich mir lange verbot zu träumen. Warum? Eine Journalistenschule, die freie Reporter:innen ausbildet. Das heißt, am Ende des Jahres selbstständig sein. Nicht zu wissen, ob ich die nächste Monatsmiete gewubbt bekomme, wo ich die nächsten Jahre unterwegs sein werde. Keinen Plan zu haben, ob die ganze Nummer aufgeht. Lange dachte ich, das sei der pure Horror. Aber ich habe es keine Sekunde bereut, meine sichere Festanstellung bei einer Lokalzeitung gekündigt zu haben, um an die Reportageschule zu gehen. Stattdessen habe ich das Freien-Leben lieben gelernt. Ich weiß jetzt, was mich glücklich macht und fühle mich auf das, was kommt, hervorragend vorbereitet. Ich habe Menschen kennengelernt in diesem Jahr, die mich inspirieren, mir gezeigt haben, dass ich als Freie nicht nur überleben, sondern sehr gut davon leben kann. Ich freue mich auf das nächste Jahr – es wird aufregend, voller Stolperfallen und Herausforderungen. Und voller Freiheit.
Ich bin Janina Martens
Nach Reutlingen kam ich als Kulturjournalistin, die in der niedersächsischen Provinz für ein paar jämmerliche Euros über verstaubte Blasorchester und avantgardistische Performer berichtete. Als eine, die Kässpätzle nur vom Hörensagen kannte, Angst vorm Autofahren hatte und sich beim Schreiben stundenlang quälte. Das Jahr an der Reportageschule hat alles verändert. Na gut, fast. Kässpätzle habe ich selten gegessen, stattdessen hundertzehnmal zum Mittag die 2-Euro-Asia-Nudelbox. Für Recherchen bin ich mit dem Auto über die Alb und durch die Voralpen gejuckelt, so lange, bis ich auf der Autobahn überholen konnte ohne schnappzuatmen. Ich habe großartige Reporter:innen kennengelernt, die sich beim Schreiben immer noch stundenlang quälen, habe von ihnen gelernt. Habe neue Themen für mich entdeckt, Texte geschrieben, weggeschmissen, neu geschrieben – und für gutes Geld an große Magazine verkauft. Schwäbisch habe ich nicht gelernt, dafür den Journalisten-Jargon; ich weiß jetzt: Portal = Gelenk = Kontextparagraph = Aufblase = Balkon.
Ich bin Karolina Kaltschnee
Ich mag keine Maultaschen, verstehe kein Schwäbisch und liebe Deutschland oberhalb des Mains. Trotzdem bin ich nach Reutlingen gegangen. Weil ich es wollte. Die Folge: wenig Schlaf und viel zu tun. Ich telefonierte Stunden täglich, recherchierte nächtens, schrieb Bücherlisten, Excel-Tabellen und Bildunterschriften. Ich rang um Ideen, saß in Zügen und Teamkonferenzen, im Osten, im Süden, im Münsterland. Ich verlor Tickets, Geld und meine Geduld, schrieb Essays, Kolumnen, Interviews, hing viel vor Zoom und fror in kaltgelüfteten Klassenräumen. Ich lernte Reportage, morgens bis abends, bekam Nachrichten, E-Mails und Schreibaufgaben. Meine Texte wurden gedreht, verworfen, besprochen, bis sie funkelten, ich lernte, las und schrieb. Ich wurde gecoacht und gestartupped. Ich bin bereit. Ein Jahr lang war meine Welt winzig. Jetzt ist sie riesig.
Ich bin Katharina Reckers
Ich kann nur sagen: Die Reportageschule lohnt sich. So richtig, ja: sie ist großartig. Vor einem Jahr habe ich gezögert, als ich gefragt wurde, was ich von Beruf mache. Nach diesem Jahr sage ich voll Inbrunst: Ich bin Journalistin. Denn ich habe kapiert, um was es geht, wie man schreibt, wie man recherchiert, in welcher Verantwortung man steht, wie man pitcht, in Themen denkt, sich präsentiert… und unendlich viel mehr. Das ist unbezahlbar. Mein Wermutstropfen war immer nur der Standort Reutlingen. Himmelhilf, die Stadt kann einem gehörig auf den Senkel gehen. Das lag aber auch an den Corona-Umständen - solange die Bars geöffnet haben, Veranstaltungen stattfinden und ein bisschen Leben auf der Straße „tobt“, kann man es schon aushalten. Vor allem für ein Jahr. Und das Schönste: Ihr seid ja nicht alleine hier. Sowieso ist man an der Reportageschule nie alleine, sondern eine Familie (Kitsch lass nach, aber es ist so!). I will miss it.
Ich bin Madeleine Londene
Hilfe, was habe ich mir nur dabei gedacht?, war mein erster Gedanke, als ich im Schneckenhof im Schwarzwald auf einem mit Leintuch bezogenen Strohballen lag. Ich spürte die Angst, die in mir hochkroch, das alles nicht durchziehen zu können. Nicht gut genug zu sein. Zu versagen. Die erste Woche an der Reportageschule war ein Sprung ins kalte Wasser: Mehrtägiger Ausflug mit zwölf angehenden, unbekannten Reporter:innen. Keiner von uns hatte einen Schimmer von dem, was alles auf uns zukommt. Von der Pandemie, die uns viel Zeit und Nerven raubt, aber auch zusammenschweißt. Von den Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen, die uns oft zum Zweifeln, aber auch zum Kämpfen zwingen. Lesen Sie http://sebron.org. Es war ein unvorhersehbares Jahr: Reise nach Russland geplatzt, Reise nach Tschechien geplatzt, kein Reporterworkshop, keine große Abschiedsfeier, kein Händeschütteln und Gruppenkuscheln. Doch wir lernten die Freude in kleinen Dingen zu finden: Am Lagerfeuer bei Philipp in Eldenburg, bei Gitarrengesang in Altenau, etlichen Pfannkuchenabenden in der Schule, Spaziergängen durch die Pomologie, Nickerchen im Garten der Stille, Kamingesprächen ohne Kamin, Sektanstößen per Zoom. Vor allem aber ist es ein Jahr, auf das wir stolz sein können. Denn echte Reporter:innen hält nichts davon ab, Geschichten zu finden und darüber zu berichten.
Ich bin Niklas Liebetrau
Ein Jahr Reutlingen, ein Jahr Reportageschule, ein Jahr täglich die gleichen zwölf Gesichter. Ich fühle mich voll und leer zugleich. Ich dachte das Jurastudium sei schwer. Und dann bin ich an so manchem Text verzweifelt. Oder einer Themenidee. Und jetzt? Macht mir beides keine Angst mehr. Jeder von uns Zwölfen hat sich dieses Jahr verändert, ist gewachsen, ist besser geworden. Mutiger, stärker, eleganter. Nach einem Jahr stehen zwölf tolle JournalistInnen da. Ich weiß: Alle werden ihren Weg erfolgreich gehen. Was bleibt hängen aus Reutlingen? Storytelling mit Roland Schulz? Coaching und Honorarverhandeln mit Michael Obert? Podcast mit Philipp Eins? An Texten feilen mit Philipp und Ariel? Gerade sitze ich im grauen Berlin, fühle mich leer und voll und denke eigentlich nur an den immer blauen Himmel in BaWü. An den Kampf mit dem Text. An die Freude über den fertigen Text. An das Lernen und Lesen. Und an die immer zwölf gleichen Gesichter morgens im Klassenraum. Ich freu mich darauf, sie alle wiederzusehen.
Ich bin Noemi Harnickell
Die mit der Bananen-Story, mit der Bügelfrau und mit den Orchideen. Wenn mich 2020 eines gelehrt hat, dann genau hinzuschauen: ob in den Leserbriefen des Schwäbischen Tagblatts oder hinter gardinenbehangenen Wohnzimmerfenstern – gute Geschichten verstecken sich überall! Ich hatte mir für das letzte Jahr vorgenommen, alles zu machen, was mich überforderte. Da ahnte ich noch nicht, was 2020 für uns alle bereithalten würde. Überfordert war ich jedenfalls nicht zu selten. Der Lockdown, ein Podiumsgespräch mit Claus Kleber, die endlose Suche nach neuen Themen in einer Stadt, über die schon 14 Jahrgänge vor uns geschrieben haben… heute weiß ich: Themenpitche, über die alle lachen, sind nicht immer die schlechtesten, gute Texte entstehen erst durch Teamarbeit und wenn gar nichts mehr funktioniert, hilft es, auf die Achalm zu steigen und den Sonnenaufgang anzuschauen. Reutlingen war intensiv, war anstrengend, war witzig, war fordernd. Nirgendwo hätte ich dieses Jahr lieber verbracht.
Ich bin Torben Becker
Es dauert nicht lange und der Alltag an der Reportageschule sieht folgendermaßen aus: Die Tage verlieren schon bald ihre Stunden, in Arbeits- und Freizeit lässt sich nicht mehr unterscheiden, der Seminarraum wird ganz eng, die zuerst freundliche Klasse zur buckligen Familie, die Suche nach Geschichten und Themen wird zur Manie und genug gelesen hat man nie, geschrieben sowieso nicht. In einem Wort: Das Jahr bedeutet Stress, aber der gehört ja ohnehin zum journalistischen Beruf. Was alles außerdem dazu gehört, habe ich in diesem Jahr auch gelernt. Reutlingen war für mich wie ein Schutzraum, in dem ich sämtliche Freiheiten ausleben konnte. Ich habe von den renommiertesten Journalist:innen des Landes gelernt, was eine gute Geschichte ausmacht, wie man die Diamanten unter den Themen findet – nämlich den Laptop zuzuklappen und raus zu gehen – und dass das Schönschreiben erstmal nicht zum Handwerk zählt. Meine wichtigste Erkenntnis aber ist diese: Ich weiß heute, dass ich als freier Reporter arbeiten und davon leben kann.